Ich schaue ihn an. Er ist nicht mehr da. Jedenfalls nicht mehr so, wie er es früher einmal gewesen ist. Wir sitzen zusammen auf einer der unzähligen Sitzbänke vor dem Hauptbahnhof und ich müsste mich freuen. Doch die Geborgenheit, die mich einst in seiner Gegenwart erfüllt hat, ist mit dem Abflauen des auf die Explosion folgenden Pfeifens in meinen Ohren verschwunden. Nur die Taubheit ist geblieben.
Sechs Jahre zuvor sassen wir zusammen auf derselben Bank. Seine lag in meiner Hand und ich musterte ihn. Sein Gesicht war kantig und rund zugleich. Es war ein Spiel der perfekten Vollkommenheit, des menschlich Seins. Ein Lächeln aus Honig mit etwas Salz war Auslöser der Neugierde, die er mich spüren liess. Er war schön mit seinem lockigen Haar, das glänzte und im Wind im perfekten Mass zerzauste. Er war schön. Und nicht nur er, sondern auch all die anderen Menschen um uns herum. Sie liefen mit eleganten Schritten. Ihre Macken waren einzigartig wundervoll und liessen jeden einzelnen von ihnen auf seine Art aus der Menge stechen. Ich hätte dem geschmeidigen Treiben der Menschen den ganzen Tag lang zusehen können. Die Krönung der Schöpfung hätte ich sie genannt. Lebewesen, an denen man sich nicht sattsehen konnte. Kreaturen, die kleinen Fehler begingen, welche jedoch in ihrem ganzen Dasein untergingen und ich so leicht übersehen konnte. Der Mensch ist schön. Er ist unbeschreiblich magisch, hätte ich gedacht, während die Verbindung über unsere Hände zwischen mir und ihm einen Wärmekreislauf bildete. Die Energie floss in mich hinein und wieder hinaus und liess die Welt um mich herum erstrahlen, als hätten meine Augen durch die plötzliche Kraftzufuhr das Sehen neu entdeckt. Die Farben erschienen knalliger und die Details so viel klarer, wenn ich mit ihm vereint war. Der Mensch ist schön, in seiner Art den Sinn im Leben verstehen zu wollen und nach einem Rückschlag nicht gleich aufzugeben. Er ist schön, auch wenn er weint und die Vielseitigkeit seiner Gefühle zeigt.
Daran habe ich geglaubt. Seine Erscheinung ist immer noch fast gleich, doch ich erkenne darin nun die vergangene Ungerechtigkeit. Für mich war der Mensch einst schön, aber jetzt weiss ich nicht einmal mehr, was menschlich sein heisst. Seine Hand ist kalt und die Welt um mich grau. Ich schaue ihm tief in die Augen und falle hindurch, denn ich erkenne darin nichts Vertrautes. Sein Gesicht ist von scharfen Kanten und hervorstehenden Wangenknochen geprägt. Der Klang seiner Stimme, der mich an den einer Motorsäge erinnert, löst Gänsehaut bei mir aus. Ein Lächeln schenkt er mir keines mehr. Zu sehr hängt er in Gedanken noch an einem fernen Ort fest. Vielleicht denkt er auch an einen gefallenen Kameraden, doch zu fragen, das traue ich mich nicht. Der Anblick der in sich zusammengesunkenen Überreste, von dem, was einmal Menschen gewesen sein mussten, widert mich an. Mechanisch suchen sie Unterschlupf, als wäre alles noch nicht vorbei. Sein störrisches Haar läuft in Spitzen aus und ich erkenne darin Stacheldraht. Haben wir uns einmal gekannt? Das ist die Frage, die ich mir unaufhörlich stelle. Die Gelenke der Menschen, die an uns vorüberziehen, sind eingerostet. Fehler sind das Einzige, was ich sehe, wenn ich mich umschaue. Die Makel der Menschen sind nicht mehr natürlich. Sie sind übertrieben und stechen markant hervor. Sie bezeugen die Grausamkeit ihrer Taten. Gebrandmarkt für die Ewigkeit, müssen sie sich unter meinen verständnislosen Blicken verantworten.
Er trug sie jeden Tag. An den Füssen. Die Familie im Herz. Er trug sie, wenn sie zusammen im Wohnzimmer sassen: die Kinder, Eltern, Grosseltern, Nachbarn, Onkel und Tante. Sie sassen wie angegossen, die Pantoffeln. Mit Leichtigkeit rutschte er hinein und wieder hinaus. Die Stimmung im Wohnzimmer war heiter. Er zog sie aus, um in die Schuhe zu schlüpfen und im Auto die vergessene Einkaufstüte zu holen. Es ging alles so flüssig, so reibungslos. Schon sass er wieder mit den anderen am Tisch. Er nahm sie nicht bewusst wahr. Sie waren einfach immer da. Wärmten ihn, gaben ihm Stabilität und boten eine Basis, auf der man aufbauen konnte. Er konnte sich auf sie verlassen.
Abends stellte er sie an den gewohnten Platz und morgens erwarteten sie ihn dort. Er ging zur Arbeit und als er zurückkam, standen sie noch immer am selben Fleck. Geduldig warteten sie jeden Tag auf ihn. Die Pantoffeln bedeuteten für ihr Gelassenheit und die Rückkehr nach Hause - hinaus aus dem Alltag. Sie widerspiegelten Erholsamkeit und Ruhe. Sie waren eben die perfekten Pantoffeln, dachte er sich.
Nach dem Kochen hing der Duft der angebratenen Zwiebel noch für eine Weile im Filz fest und den Fettfleck, den die Bratensauce auf dem Stoff hinterlassen hatte, hatte er nicht vollständig entfernen können. Doch das störte ihn nicht. Denn es zeugte von Leben.
Sie sassen zusammen vor dem Fernseher und schauten ihre Lieblingssendung. Die Pantoffeln ruhten sich neben der Couch aus. Auf dem Weg zum Schlafzimmer boten sie schlurfend einen Vorgeschmack auf das weiche Bett, das ihn erwartete. Sie waren so bequem die Pantoffeln. Sie zu tragen war ausserordentlich angenehm, ging es ihm durch den Kopf.
Sie dienten ihm immer, wenn er sie brauchte. Er musste sie nicht pflegen. Alles funktionierte von allein. Es ist nicht so, dass er sie nicht hätte pflegen wollen, aber es gab einfach keinen Grund dazu. Er hätte sie auch repariert. Er hatte ein grosses, warmes Herz. Doch sie gaben ihm alles, was er sich erhoffte. Sie genügten. Sie waren da. Die Pantoffeln begleiteten ihn tagein tagaus über Wochen hinweg, die zu Monaten wurden und sich in Jahren vollendeten. Immer warteten sie, immer stützen sie seine Ferse an der richtigen Stelle und immer wieder fingen sie ihn auf. Nahmen ihm die Last. Das Polster federte alle Schmerzen ab. Er mochte die Pantoffeln so unglaublich gern. Und erneut ging er aus dem Haus und liess die Pantoffeln zurück, um sich seiner Berufung zu widmen.
Als die Sterne bereits am Himmel standen und sich seine Füsse nach den kuscheligen Pantoffeln sehnten, überquerte er schon die Türschwelle. Er wollte in die Pantoffeln schlüpfen, wie er es so oft zuvor getan hatte. Doch es misslang ihm. Seine Zehe war hängengeblieben. Er bückte sich vornüber und entdeckte Risse, welche die Rückseite der Pantoffeln übersäten. Er hatte sie wohl etwas zu oft abgestreift. Als er sich wieder aufrichtete - die Pantoffeln an den Füssen - schmerzte sein Rücken. Er trottete in die Küche. Die Pantoffeln schmatzten über den klebrigen Boden und seine Füsse taten ihm weh. Im Spülbecken stand dreckiges Geschirr. Seine Ausrufe verklangen in der Dunkelheit. Das Haus war leer. Der Platz war nicht mehr ausgefüllt.